Neulich lass ich das englische Original zu „The Responsibility Process: Wie Sie sich selbst und andere wirkungsvoll führen und coachen“. In diesem inhaltlich interessanten, leider etwas sehr weitschweifenden Buch hat der Autor Christopher Avery folgende Ebenen identifiziert, auf denen wir uns im Problemerleben bewegen können. Und aus seiner Sicht können wir nur in der Verantwortung (Responsibility) ganz oben uns weiterentwickeln und dazulernen.

https://www.christopheravery.com/pdf/Avery-SCNA-responsibility.pdf

Die Übersetzungen dazu sind:

  • Responsibility = Verantwortung
  • Obligation = Verpflichtung
  • Quit = Aufgeben
  • Shame = Schämen
  • Justify = Rechtfertigen
  • Lay Blame = Beschuldigen
  • Denial = Leugnen

Wir alle bewegen uns in unseren Problemen auf eine dieser Ebenen, und können auch von einer zur anderen wandern.

Bei „Leugnen“ verweigern wir uns, das Problem überhaupt zu sehen. Das sind die blinden Flecke, die wir alle besitzen. Sehr oft weiß unsere Umgebung ganz gut, welche das sind.

In „Beschuldigen“ sind andere schuld, und müssen daher andere das Problem lösen – wir können das nicht! Dies entspricht in den Top 5 der Lösungsblockaden in PEP den Punkten „Fremdvorwürfe“ und „Erwartungshaltung“.

In „Rechtfertigen“ sind es die Umstände, die das Problem verursachen, daher müssen sich erst die Umstände ändern – wir können das nicht! Auch dies wird von den Punkten „Fremdvorwürfe“ und „Erwartungshaltung“ in PEP abgedeckt.

In „Schämen“ geben wir die Idee auf, dass andere oder die Umstände schuld sind – also sind wir es selbst! Und dafür schämen wir uns, und bleiben gleichzeitig im Problem kleben, nur mit viel schlechterem Gefühl und Gewissen. Dies entspricht in PEP der Lösungsblockade „Selbstvorwürfe“.

In „Aufgeben“ fühlen wir uns nicht verantwortlich, ziehen uns aber auch nicht zurück, sondern geben auf und stellen uns tot, beispielsweise im 20sten sinnlosen Teammeeting – statt Verantwortung zu übernehmen und zu klären, was besser getan werden kann. Hier passt der Satz „Nicht entscheiden ist auch eine Entscheidung!“

In „Verpflichtung“ fühlen wir uns irgendwie verantwortlich, aber wir leiden uns da durch. Wir tun es, weil wir es tun müssen. Und das ist sehr energieraubend. Wie fühlt sich eine Liste an, auf der jeder einzelne Punkt anfühlt nach „ich muss… ich muss… ich muss…“? Die Anforderungen von außen bestimmen den Tag, und nehmen uns die Kontrolle. Keine kraftvolle Position. Hier sind oft unterbewusste Loyalitäten im Spiel.

Nur in der „Verantwortung“ – die Avery als „100% Verantwortung“ betont – fühlen wir uns tatsächlich verantwortlich für das, was da gerade in unserem Leben ist.

Hier ist mir ganz wichtig klarzustellen, dass dies nicht heißt, wir tragen 100% Verantwortung für die ganze Welt. Wir neigen oft dazu, (Über-) Verantwortung für etwas tragen zu wollen, was wir gar nicht direkt beeinflussen können (Corona, Klima, Weltfrieden…). Und vergessen gleichzeitig, dass wir 100% Verantwortung übernehmen können dafür, wie wir mit etwas umgehen – wie wir es erleben und was wir daraus machen.

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
 und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet

Ich habe aus einem Seminar für mich mal den Satz mitgenommen „Alles in meinem Leben ist meins.“ Er klingt banal, aber für mich war es eine große Erkenntnis. Es ist egal, warum etwas in meinem Leben ist – aber ich bin die einzige Person, die sich damit beschäftigen muss, kann und darf. Wir selbst machen unser Erleben, und wir selbst geben etwas diese und jene Bedeutung. Das Außen schickt Einladungen, und unsere vergangenen Lernerfahrungen reagieren hierauf, völlig zu Recht! Denn so haben wir – ein Teil von uns – das damals unbewusst gelernt, und Schlüsse daraus gezogen, welches Verhalten hilfreich und sinnvoll ist.

100% Verantwortung für mein Erleben und Handeln zu übernehmen heißt für mich, immer wieder zu hinterfragen, was denn gerade in mir abläuft. Welche Einladungen nehme ich gerade an, obwohl es mir nicht guttut? Was sitze ich gerade aus und leide dabei, statt meine Verantwortung anzunehmen?

Wie kommen wir in die Verantwortung hinein?

  • Intention = Absicht
  • Awareness = Aufmerksamkeit
  • Confront = Sich stellen

In „Absicht“ richte ich mich innerlich darauf aus, dass ich in den Situationen und Problemen, die mir begegnen, Verantwortung übernehmen will. Dies ist mein Ziel, darauf arbeite ich hin.

In „Aufmerksamkeit“ richte ich mich darauf aus, wahrzunehmen, was ist und wo ich selbst gerade im Prozess stehe. Mache ich gerade jemandem Vorwürfe? Mache ich mir gerade Selbstvorwürfe? Sitze ich etwas aus? Mache ich etwas nur für andere, weil ich es halt muss?

In „Sich stellen“ schaue ich der aktuellen Wahrheit ins Auge, stelle mich der Situation und dem Zustand, wo ich gerade bin, und lerne daraus.

Wie können wir uns weiterentwickeln?

Das „Catch Sooner Game“ („Früher-fangen-Spiel“) ist unser kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Es ist zutiefst menschlich, uns immer wieder in Anklage und Rechtfertigung wiederzufinden, und wenn wir uns dabei ertappen, landen wir sehr oft in den Selbstvorwürfen. Christopher Avery sieht daher folgende vier Schritte im Kreislauf.

  • Catch – Erwischen
  • Change – Verändern
  • Forgive – Vergeben
  • Vow – Versprechen

Im „Erwischen“ stellen wir fest, dass wir uns gerade in einem nicht so hilfreichen Zustand befinden.

In „Verändern“ verändern wir unsere Haltung in Richtung Verantwortung.

In „Vergeben“ vergeben wir uns selbst dafür, dass wir Menschen sind und uns nicht schneller verändern können und daher immer wieder auch Ehrenrunden in alte Muster drehen. Ich denke inzwischen, die Fähigkeit uns mit all unseren Schwächen anzunehmen und uns selbst zu vergeben ist eine der wichtigsten überhaupt. Kaum etwas ist so häufig und gleichzeitig so bremsend und kräftezehrend wie Selbstvorwürfe!

In „Versprechen“ geben wir uns selbst das Versprechen, dass wir beim nächsten Mal noch früher feststellen, wenn wir uns in einem weniger hilfreichen Zustand befinden.

Diese vier Schritte des Kreislaufs sind für jegliche Art von erwünschten Veränderungsprozessen geeignet, nicht nur in Richtung Verantwortung.

Das Buch „The Responsiblity Process“ besitzt danach noch ein weiteres großes Kapitel mit Beispielen zur Umsetzung im eher beruflichen Kontext – auf der persönlichen Ebene („Lead yourself first“), der Teamebene und der Führungsebene in Firmen, die ich hier nicht weiter beschreiben möchte und die ich am Ende auch nicht mehr vollständig gelesen habe, da es mich weniger betrifft. Das Buch ist grundlegend lohnenswert, allerdings aus meiner Sicht ziemlich weitschweifig und redundant geschrieben (was bei amerikanischen Beststellern häufiger mal zutrifft).

Die Kernpunkte habe ich hier zusammengefasst, nicht nur für euch, sondern auch für mich selbst. Es ist nämlich sehr menschlich, auch die tollsten Erkenntnisse immer mal zu vergessen – und dann hilft die eigene Aufzeichnung.